Was kommt einem in den Sinn, wenn das Buch der Offenbarung erwähnt wird? Hier sind einige Wörter und Ausdrücke, die man oft in Verbindung damit hört: das Ende der Welt … die Entrückung … vier Reiter . . . der Antichrist . . . 666 . . . das Gericht . . Rache . . . das zweite Kommen . . . der Himmel. Interessanterweise kommen zwei der Wörter in dieser Liste, die am meisten mit der Offenbarung in Verbindung gebracht werden – Entrückung und Antichrist – in der Offenbarung gar nicht vor. Einige der wichtigsten Wörter in der Offenbarung, wie Zeuge, Thron und Lamm, kommen einem nicht so schnell in den Sinn, obwohl sie in der Offenbarung eine zentrale Rolle spielen. Dieser Artikel gibt einen kurzen Überblick über die vier Arten, wie die Offenbarung im Laufe der Jahrhunderte verstanden wurde, und enthält einige hilfreiche Grundsätze für das Verständnis dieses letzten Buches der Bibel.
Die Offenbarung zählt zu der literarischen Gattungen der apokalyptischen Literatur. Die Nichtbeachtung dieser Tatsache kann zu großen Problemen bei der Auslegung des Buches führen. Von den 404 Versen der Offenbarung enthalten 278 Anspielungen auf das Alte Testament.
Die vier Hauptauslegungen
Im Laufe der Jahrhunderte haben sich vier Hauptinterpretationen zur Auslegung der Offenbarung herausgebildet: die präteristische, die historische, die futuristische und die idealistische.
Die präteristische (vergangenheitsorientierte) Auslegung geht davon aus, dass sich die Ereignisse der Offenbarung größtenteils in den ersten Jahrhunderten der christlichen Ära erfüllt haben – entweder beim Fall Jerusalems im Jahr 70 n. Chr. oder sowohl beim Fall Jerusalems im ersten Jahrhundert als auch beim Fall Roms im fünften Jahrhundert. Das Buch wurde geschrieben, um die Christen zu trösten, die unter der Verfolgung sowohl durch den Kaiserkult als auch durch das Judentum litten.
Die historische Schule geht davon aus, dass sich die Ereignisse der Offenbarung durch die Geschichte hindurch entfalten. Diese Sichtweise war besonders mit dem Denken der protestantischen Reformatoren vereinbar, die das päpstliche System ihrer Zeit mit dem Antichristen gleichsetzten. Diese Sichtweise wird heute so gut wie gar nicht mehr vertreten.
Das futuristische Schema argumentiert, dass die Ereignisse der Offenbarung weitgehend unerfüllt sind, und vertritt die Ansicht, dass die Kapitel 4-22 auf die Endzeit warten, um sich zu verwirklichen. Bibelwissenschaftler bevorzugen gewöhnlich die präteristische Auslegung, während die futuristische Lesart in der breiten Masse den Vorrang hat.
Die idealistische Sichtweise hält sich im Gegensatz zu den drei vorangegangenen theologischen Konstrukten zurück, wenn es darum geht, die Symbolik der Offenbarung historisch zu verorten. Für diese Denkschule stellt die Offenbarung zeitlose Wahrheiten über den Kampf zwischen Gut und Böse dar, der das ganze Kirchenzeitalter hindurch andauert.
Welche der vier Interpretationen ist richtig? Die Beantwortung dieser Frage ist schwierig. Jeder muss sich selbst die Fakten ansehen und seine eigene Entscheidung treffen. Wenn man die Bibel ernst nimmt, muss man auch die literarische Gattung des Textes berücksichtigen. Die Tatsache zu ignorieren, dass es sich bei der Offenbarung um apokalyptische Literatur handelt, wird große Missverständnisse verursachen.
Was ist apokalyptische Literatur?
Die grundlegende Funktion der apokalyptischen Literatur scheint ziemlich klar zu sein: Sie soll dem Volk Gottes Halt geben, vor allem in Zeiten der Krise, insbesondere in Zeiten des Bösen und der Unterdrückung. Die apokalyptische Literatur bringt Hoffnung zum Ausdruck und schafft Hoffnung, indem sie scharfe Kritik an den Unterdrückern übt, leidenschaftlich zum Widerstand aufruft und unerschütterliches Vertrauen in Gottes endgültigen Sieg über das gegenwärtige Übel vermittelt. Die Aufgabe der apokalyptischen Literatur besteht darin, Bilder zu liefern, die uns zeigen, was in unserem Leben vor sich geht.
Welche der vier Interpretationen ist richtig?
Die historisierende und die futuristische Auslegung erscheinen mir sehr unwahrscheinlich. Kaum ein seriöser Bibelwissenschaftler vertritt noch die historisierende Sichtweise. Sie macht einfach nicht viel Sinn. Die futuristische Sichtweise ist heute vor allem wegen des großen Einflusses der Finale-Buchreihe die gängige Auffassung. Gorman nennt in seinem Buch 21 Gründe, warum die Finale-Bücher (von Tim LaHaye und Jerry B. Jenkins) problematisch sind und tatsächlich eine gefährliche Theologie enthalten. Zusammengefasst könnte man sagen, dass die futuristische Auslegung die Hauptthemen der Offenbarung verfehlt und Theologien hervorbringt, die im Widerspruch zu einigen Schlüsselthemen der Bibel stehen.
Daher neige ich persönlich zu einer präteristischen oder idealistischen Auslegung des Buches der Offenbarung. Diese beiden Auslegungen passen gut zum Zweck der apokalyptischen Literatur und machen im Lichte des Gesamtbildes der Bibel Sinn.
Was ist die Botschaft des Buches der Offenbarung?
Das Ziel der biblischen Eschatologie ist es, den Menschen in schwierigen Zeiten Hoffnung zu geben, damit sie Gott treu bleiben.
Meiner Meinung nach besteht der Zweck der Offenbarung darin, ihre Hörer und Leser, sowohl in der Antike als auch in der Gegenwart, davon zu überzeugen, Gott trotz vergangenem, gegenwärtigem oder möglicherweise künftigem Leid treu zu bleiben – ganz gleich, welche Form dieses Leid annehmen und welche Quelle es haben mag. Hoffnung besteht, weil Gott letztlich siegen und das Böse auslöschen wird. Der Sieg Gottes ist gewiss, und deshalb ist die Hoffnung selbst inmitten der größten Finsternis gerechtfertigt. Die Offenbarung „vermittelt der bedrohten irdischen Gemeinschaft die Gewissheit des himmlischen Sieges“ (Udo Schnelle).
Die Offenbarung ist eine gewaltige Sinfonie, die verkündet: Gott wird sich durchsetzen, er wird letztlich alles Böse und Unrecht überwinden und sein vollkommenes Reich der Schönheit, Gerechtigkeit und Liebe errichten. Gott wird alles erlösen. Er wird Wiederherstellung und Versöhnung bringen. Am Ende wird das Gute über das Böse triumphieren. Das ist die christliche Hoffnung, die selbst inmitten der Finsternis leuchtet!
Theologische Themen in der Offenbarung
- Der Thron: die Herrschaft Gottes und des Lammes. Gott, der Schöpfer, regiert! Jesus, der Erlöser, das geschlachtete Lamm, ist Herr! Die Herrschaft des ewigen Gottes ist nicht nur Zukunft oder Vergangenheit, sondern Gegenwart, und sie manifestiert sich ausgerechnet im geschlachteten Lamm. Gott ist untrennbar mit dem Lamm verbunden und andersherum. Beide können als das Alpha und das Omega bezeichnet werden, und sie herrschen gemeinsam auf einem Thron. Jesus hat am Kreuz offenbart, dass Gottes Macht sich nicht durch Gewalt und Zwang, sondern durch selbstlose Liebe offenbart. Dies ist ein kreuzzentriertes Verständnis der göttlichen Macht.
- Die Realität des Bösen. Das Böse ist real. Es liegt in der Natur dieser bösen Mächte, dass sie verführerische, blasphemische und unmoralische Behauptungen aufstellen und entsprechende Praktiken anwenden, die sowohl die vertikalen (Mensch-Gott) als auch die horizontalen (Mensch-Mensch) menschlichen Beziehungen in Unordnung bringen und Leben versprechen, aber den Tod bringen – sowohl physisch als auch geistig.
- Die Verlockung zu Götzendienst und Unmoral. Die christliche Kirche lässt sich leicht vom Götzendienst und der Unmoral des Bösen verführen. Unmoral ist letztlich Götzendienst: der Götzendienst der Gewalt, der Unterdrückung, der Gier, der Lust und dergleichen. Die ultimative Unmenschlichkeit der Menschheit – die Behandlung von Mitmenschen als Mittel zum Zweck – ist daher im Grunde ein Angriff auf Gott als Schöpfer und Erlöser.
- Der Aufruf zu Bündnistreue und Widerstand. Inmitten dieser Welt ist die Kirche als unvermeidliche Folge der Bundestreue zu Gott zum Widerstand aufgerufen. Die Aufgabe der Kirche ist es Gottes Reich und seinen Weg der selbstlosen Liebe zu demonstrieren in einer Zeit die von Selbstsucht und Gier geprägt ist. Dieser Aufruf zum Widerstand kann zu verschiedenen Arten von Leiden und Verfolgung führen.
- Gottes Weg ist radikal anders als der Weg dieser Welt. In der Offenbarung wird das Wertesystem dieser Welt mit einer Bestie verglichen. Die Bestie steht für Arroganz, Dominanz, Gewalt, Unterdrückung und Entmenschlichung. In der Offenbarung beten die Menschen dieses Tier an. Im Zentrum der Offenbarung steht ein kleines Lamm, das aussieht, als sei es geschlachtet worden. Es verkörpert das Gegenteil der Bestie: Demut, Mitgefühl, Dienerschaft, Gewaltlosigkeit, Vergebung, sich selbst schenkende Liebe. Die Vision dieses kleinen Lammes, das „auf dem Thron sitzt“ oder die ultimative Macht des Universums ist, die Offenbarung der wahren Natur Gottes, wird von einer Welt, die im Bann des Tieres steht, als Schwäche und Torheit angesehen. Aber ironischerweise tritt das kleine Lamm „in die Kelter des Zorns des allmächtigen Gottes“. Hier darf die Ironie nicht übersehen werden. Das Lämmchen ist gewaltlos. Seine reine, weiße Wolle ist mit seinem eigenen Blut bedeckt. Und doch ist es ein kleines Lamm, das das sich selbst überhebliche, monströse Tier mit Macht stürzt. Das ist „der Zorn des kleinen Lammes“. Es ist eine ironische Metapher für die Macht und Weisheit Gottes, die sich im Kreuz offenbart. „Die Finsternis kann die Finsternis nicht vertreiben, das kann nur das Licht tun. Der Hass kann den Hass nicht vertreiben, das kann nur die Liebe.“ Der Zorn des kleinen Lammes ist ein subversives Bild dafür, wie die Schwachheit und Torheit Gottes die Macht und Weisheit der Welt völlig zerstört und zu einer neuen Schöpfung führt, in der jede Zunge bejaht und jeder Wille sich dem kleinen Lamm unterordnet. Und wenn die neue Schöpfung kommt, „ist das kleine Lamm das Licht, das in der Mitte leuchtet“. Das erste und das zweite Kommen sind nicht zwei verschiedene Jesus‘. Es ist derselbe Jesus. Der wiederkommende Richter ist das „kleine Lamm“ der Offenbarung. Wenn wir das Buch der Offenbarung nicht um das geschlachtete kleines Lamm herum lesen, dann lesen wir sie falsch. Das Buch der Offenbarung verherrlicht und vergrößert das Kreuz als die Macht und Weisheit Gottes und zeigt, wie es die Mächte und Gewalten besiegt. Das ist die Kraft der subversiven Sprache des „Zorns des kleinen Lammes“. Das Schwert, das Jesus hat, geht aus seinem Mund hervor. Es ist eine Botschaft. Das Gewand Jesu ist mit Blut befleckt, bevor er gegen die Weltmächte kämpft. Es ist sein eigenes Blut. Das Lamm besiegt das Tier, indem es sein Leben nicht bis zum Tod liebt und durch das Wort seines Zeugnisses der Vergebung und der sich selbst verschenkenden Liebe.
- Treuer Zeuge: Das Vorbild Christi. Der christliche Widerstand gegen die bösen Mächte besteht darin dem Vorbild des Lammes zu folgen. Christus-Nachfolger sind gerufen ein Leben der selbstlosen Liebe zu führen und dadurch Christus durch ihr Leben zu bezeugen.
- Das bevorstehende Gericht und die Erlösung/Neuschöpfung Gottes. Gott, der Schöpfer, und Christus, der Erlöser, nehmen das Böse und die Ungerechtigkeit ernst und werden bald kommen, um sowohl die Menschheit zu richten als auch zu retten und den Kosmos zu erneuern. Gottes Wille ist es, dass alle dem Lamm folgen und dadurch der gesamte Kosmos versöhnt wird.
- Das Gericht ist kein Selbstzweck, sondern Gottes Mittel, um seinen endgültigen Sieg zu erringen. Gottes Gerechtigkeit ist von Natur aus wiederherstellend. Der Zweck von Gottes Gerichten ist nicht vergeltend, sondern wiederherstellend. Der Feuersee muss im Einklang mit dem Thema Feuer in der gesamten Bibel verstanden werden. Gott ist ein verzehrendes Feuer. Er verzehrt das Böse, die Sünde, die Ungerechtigkeit und die Finsternis. Aber sein Feuer ist reinigend. Die großen Kirchenväter haben die Feuergerichte Gottes als wiederherstellende und reinigende Gerichte verstanden.


Offenbarung 21,25-22,2 gibt uns Grund zur Hoffnung. Außerhalb vom neuen Jerusalem befinden sich diejenigen, die noch nicht Buße getan haben (Offb 22,15), diejenigen, die in den Feuersee geworfen wurden (Offb 21,1-8). Aber Gott gibt die Menschen, die er liebt, niemals auf. Die Tore des neuen Jerusalem werden niemals verschlossen sein. Gottes Barmherzigkeit wird niemals enden. Die Blätter in der Stadt sind für die Heilung der Völker bestimmt. Die Offenbarung endet mit der Einladung Gottes: „Und der Geist und die Braut sagen: „Komm!“ Und wer es hört, der soll sagen: „Komm!“ Und wer durstig ist, der komme; wer will, der nehme das Wasser des Lebens umsonst“ (Offb 22,17). Die treue Liebe Gottes währt ewig. Der Vater wartet immer mit offenen Armen, so wie Jesus es uns gelehrt hat (Lk 15,20).
Letztlich wird Gott siegen, und sein Wille, die kosmische Wiederherstellung seiner Schöpfung, wird nicht vereitelt werden. Das Buch der Offenbarung zeugt von dieser Hoffnung und ermutigt damit Christen inmitten schwerer Zeiten.
Bibliografie:
Gentry Jr., Kenneth L. 1998. Four Views on the Book of Revelation (Zondervan Counterpoints Series)
Gorman, Michael J. 2010. Reading Revelation Responsibly: Uncivil Worship and Witness: Following the Lamb into the New Creation.
Dieser Artikel enthält viele übersetzte Zitate aus diesen beiden Büchern.
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